Leseprobe zu Alessandro
„Ihr habt doch bestimmt von dem Raubüberfall auf diesen Adeligen aus unserer Stadt gehört, der während seiner Rückreise, samt Personal am helllichten Tag und trotzdem ohne Zeugen kaltblütig ermordet wurde…? Und man fragte sich, war sein Tod nun eher ein böser Zufall, dass ihm Banditen und Plünderer über den Weg liefen – oder doch eher eine Verschwörung gegen ihn? Darauf deutete ohnehin schon alles hin, da die Morde derart präzise getätigt wurden. – Und nun stellt euch vor, ich weiß die Antwort! Ich weiß sogar, wer es war, der den Auftrag gab, ihn umbringen zu lassen! Ich saß dem Täter heute nämlich gegenüber. Ja, ja… es war sein Neffe! Er beauftragteAssassinen für den Job“, plauderte Odo darauf los.
„Und weshalb war er bei dir?“, fragte Renatus, der ebenfalls mit am Tisch saß.
„Ja, genau das wollte ich auch gerade fragen“, stimmte Camillo mit ein.
„Weil die Assassinen seinem Onkel etwas abgenommen haben, das er unbedingt haben wollte: Ein Amulett, welches dieser immer um den Hals trug“, erklärte er weiter. „Eigentlich hatte er den Auftragsmördern ja die Bedingung gestellt, sie könnten sich von den Toten alles nehmen was sie wollen, außer das Amulett. Doch der Anführer der Assassinen schien Gefallen daran gefunden zu haben, bestand darauf, es zu behalten und drohte dem Neffen sogar, er sei das nächste Opfer, wenn er wegen des Amuletts keine Ruhe gäbe und sie nicht trotz dessen wie abgesprochen entlohnt. Stattdessen vertröstete er den Neffen damit, dass er ohnehin einer der wenigen Erben des Anwesens und den darin befindlichen Wertsachen ist. Doch das will der Neffe nicht einfach so auf sich sitzen lassen und beauftragt nun die Diebesgilde damit,“
„… das Amulett zurück zu stehlen – Ich verstehe…“, nahm ihm Clement die Worte aus dem Mund.
„Ja, und er zahlt auch noch eine Unsumme an Gold dafür! – Wohl sein halbes Erbe vom Onkel“, fuhr Odo begeistert fort.
„Ist das Amulett denn so wertvoll?“, interessierte es Neil.
„Angeblich nicht. Er behauptet, es bestünde nur aus Bronze“, berichtete Odo.
„Aber warum bietet er dann so viel Geld dafür? Ich meine, er konnte seinen Onkel sicher nicht einmal leiden, wenn er ihn ermorden ließ. Warum also will er ein wertloses Erbstück von ihm an sich bringen?“, fragte nun auch Lina.
„Er behauptet, dies käme rein seiner Rache an den Assassinen zu Gute, doch das kaufe ich ihm nicht ab“, äußerte sich nun auch Odo.
Ich hatte die ganze Zeit über aufmerksam zugehört, mich bis jetzt aber noch nicht dazu geäußert. Somit lauschten alle interessiert, als ich endlich das Wort ergriff: „Es scheint wohl doch noch irgendeinen anderen, individuellen Wert zu haben, den er uns verheimlichen will. Aber für wie blöd hält er uns eigentlich?“
„Heißt das, wir klauen das Amulett und finden seinen wahren Wert heraus?“, riet Vinzenz wild darauf los.
Ich ignorierte diese Aussage vorerst. „Odo, hast du ihm schon zugesagt?“
„Nein, ich sagte ihm, ich müsse einen derart komplexen Auftrag erst mit den Dieben besprechen“, antwortete dieser.
„Richtig so. Wie sollten wir überhaupt auf diese Assassinen treffen, um sie zu bestehlen? Ich meine, keiner kennt ihr Versteck und ihre wahre Identität – genauso wie bei uns. Hat er sich dazu auch schon was ausgedacht?“, fragte ich weiter.
„Er hat übermorgen um Mitternacht ein Treffen mit ihnen am Steinbruch vereinbart – allerdings anonym. Angeblich, weil er ihre Dienste benötigen würde. Sie werden also dort sein, er wird jedoch nicht aufkreuzen. Stattdessen soll sich ein Dieb anschleichen und dem einen das Amulett abnehmen. So lautet der Plan“, erklärte Odo.
„Schon übermorgen?“, fragte Lia. „Da bleibt ja kaum Zeit mehr zu planen.“
„Wir waren nicht die ersten, denen er den Auftrag angeboten hat. Und als ihm eine andere Stelle kurzfristig absagte, er das Treffen mit den Assassinen aber schon vereinbart hatte, suchte er uns auf“, informierte uns Odo.
„Keine Sorge, wir müssen dazu auch nichts planen“, kam es von mir.
„Weil Ihr nämlich schon längst einen Plan in Aussicht habt, nicht wahr, Meister?“ Vinzenz’ Augen leuchteten beinahe vor Begeisterung.
„Falsch. Weil wir nicht annehmen werden. Sag ihm das, Odo. Ich bin doch nicht bescheuert und opfere mich oder einen anderen von uns. Hey, das sind kaltblütige Auftragsmörder – die verstehen keinen Spaß!“, erinnerte ich alle am Tisch daran.
Odo nickte. „Ich werde ihm morgen absagen.“
„Aber Ihr, Ihr würdet das doch sicherlich schaffen!“ Vinzenz schien beinahe enttäuscht darüber, dass ich den Auftrag ablehnen würde.
„Vielleicht würde ich das – aber das ist es mir nicht wert! Ich trete gegen keine Assassinen an, solange ich die Wahl habe!“, versuchte ich es ihm klar zu machen.
„Und das ist auch klüger so“, fand Lina.
„Aber die reiche Belohnung! Denkt nur mal an das viele Geld! Und wer weiß, was dieses Amulett noch bringen mag? Wenn er es unbedingt haben will, dann muss es doch etwas wert sein!“, rief Vinzenz.
„Schlag’ es dir aus dem Kopf! Mit dem ganzen Geld kann ich nichts mehr anfangen, wenn ich tot bin. Spiel lieber nicht mit Assassinen. Die Maus spielt auch nicht mit der Katze!“ Ich nahm mir fest vor, jene, eben von mir aufgestellte, Regel auch in meinem Lehrbuch festzuhalten.
Zwei Tage danach war bei Einbruch der Dunkelheit ein etwas komplizierterer Auftrag zu erledigen. Diesen Diebstahl hätte ich zwar auch Neil oder vielleicht sogar Vinzenz zugetraut, doch ich nahm ihn mir persönlich vor, da momentan nichts Schwierigeres anstand und ich meine Jungs in keine halsbrecherischen Abenteuer schicke, solange ich mit den Missionen und deren Anzahl allein gut zurechtkomme.
Bedauerlicherweise würde der Einbruch jedoch nicht den erhofften Betrag erbringen, der sonst für solche Arbeit üblich wäre, denn der Auftraggeber hatte sehr zu seinen Gunsten mit Odo verhandelt und momentan war die Gilde wegen einem leichten Auftragsmangel mitunter auch von derartigem Einkommen einfach abhängig, nachdem Odo und ich unser Erspartes damals in den Bau gesteckt hatten. Ich will auch nicht sagen, dass es sich bei der Bezahlung um wenig Gold handelt – jedoch für die Ware, die wir liefern, ließ es doch recht zu wünschen übrig. Nichts desto trotz mussten wir unseren fleißigen Handwerkern als Entlohnung auch etwas bieten und sie mit genug Nahrung versorgen. Momentan hatte ich immerhin 46 Mäuler zu stopfen!
Nachdem ich den Diebstahl schließlich erfolgreich erledigt hatte, kehrte ich des Nachts in die Diebesgilde zurück. Es waren nicht mehr viele Mitglieder wach und Apollonia war eine von den wenigen, die sich noch im Konferenzsaal aufhielten. Jedoch schien sie sich wach gehalten zu haben, da sie offensichtlich sehr müde war und beinahe sitzend, mit dem Kopf auf ihre am Tisch liegenden Arme gebettet, eingeschlafen wäre. Sobald ich jedoch die Diebesgilde betreten hatte, stand sie auf und folgte mir.
Ich wanderte durch den Flur, um im Schlafsaal nachzusehen, ob meine Kinder vollzählig waren und in ihren Betten lagen, als sie mich ansprach: „Alessandro, da gibt es etwas, das du erfahren solltest…“ Sie schwieg, als ich die Tür zum Schlafsaal öffnete, da sie niemanden wecken wollte. Schon von meinem Standort aus erkannte ich, dass zwei Betten leer standen, die eigentlich besetzt sein sollten. „…Genau das meinte ich“, fuhr sie flüsternd fort. „Vinzenz und Neil haben sich gestritten, während du nicht da warst. Vinzenz ist darauf wütend zur Tür raus gestürmt und auch Neil war bereits kurze Zeit später unauffindbar…“
„Ich bringe nur schnell das Diebesgut in die Schatzkammer, dann geh ich sie suchen.“ Mit diesen Worten öffnete ich die Tür zum Labyrinth, worauf sich auch schon unser erstes Problem erübrigte. Neil war gefunden. Er saß im Eingangsbereich des Irrgartens am Boden und blickte etwas unsicher zu mir auf. Dieser Anblick und zudem meine Antwort schienen auch Apollonia zu beruhigen, die nun endlich zu Bett ging.
Neil richtete sich vom Boden auf. Ich beachtete ihn kaum, da es mich nervte, zu dieser Stunde noch nach Vinzenz suchen zu müssen und Neil an dieser Tatsache nicht ganz unschuldig zu sein schien. So schritt ich an ihm vorbei, um in den Irrgarten zu gelangen. „Meister…, i-ich…“, stotterte er. Er war mir ein paar Schritte gefolgt, worauf ich stehen blieb und mich zu ihm wandte. Neil entschloss sich prompt, einen neuen Satz zu beginnen. „- Das war nicht meine Absicht! …“
„Warte im Konferenzsaal. Wir reden, wenn ich zurück bin“, sprach ich ruhig und beherrscht, was ihn nur noch nervöser zu machen schien. Irgendwie konnte ich es sogar verstehen. Man sah mir meine Anspannung wohl deutlich an und Neil befürchtete, dass dies nur die Ruhe vor dem Sturm wäre.
Nachdem ich also die Wertsachen verstaut hatte, setzte ich mich ihm gegenüber an den Tisch und fragte: „Was ist passiert?“
Sofort sprudelten die Worte aus Neil heraus: „Vinzenz und ich trainierten die Diebeskünste, als er plötzlich wieder von diesem Auftrag mit den Assassinen anfing und warum Ihr ihn nicht machen wolltet – und dass Ihr stattdessen diesen anderen Auftrag ausführt, der verhältnismäßig nur eine geringe Bezahlung einbringt. Ich meinte daraufhin zu ihm, dass er es gut sein lassen solle und dass Ihr eben tut, was Ihr für richtig haltet, doch dann reagierte er plötzlich wütend und aufbrausend und beschuldigte mich, ich wäre Euer Favorit und würde nur deswegen ständig zu Euch halten, um es auch zu bleiben. Ich versuchte die Situation zu beruhigen, doch er wollte mir nicht zuhören und stürmte aus der Diebesgilde mit den Worten: Ich kann genau so viel wie du und das werdet ihr alle noch sehen! … Ihr glaubt doch nicht etwa, dass er eine Dummheit macht…?“
Mein Gesichtsausdruck hatte sich zum Ende seiner Erzählung drastisch verändert. „Oh doch, das glaube ich…“ nach dieser Aussage stand ich auf, ging eilig in den Trainingsraum und suchte dort gezielt nach der richtigen Ausrüstung.
Neil war mir gefolgt und beobachtete mich vom Türrahmen aus. „Ich… ich habe auch überlegt, eine Nachricht an Euch zu hinterlassen und am Steinbruch nach ihm zu suchen, doch dann kam mir in den Sinn, dass es Euch wohl nicht recht wäre, wenn ich mich auch noch in der Nähe der Assassinen aufhalte…“
„Da hast du verdammt Recht! Du bleibst hier!“, ordnete ich an, während ich mich mit meiner besten Armbrust bewaffnete.
„Na warte, Bürschchen, wenn es die Assassinen noch nicht hinter sich gebracht haben, werde ich dich nach dieser Aktion wohl umbringen…“, murmelte ich vor mich hin, während ich die Diebesgilde durch das Lagerhaus verließ.
Unterwegs knackte ich einen Pferdestall und wählte eine, mir ruhig und brav erscheinende, schwarze Stute mit weißem Stirnfleck, mit der ich schneller zum Steinbruch gelangen würde. Kurz vor Ankunft stieg ich vom Pferd und band es an einem Baum fest, da ich mich nun unentdeckt anschleichen musste und zudem nicht wusste, ob die Assassinen schon hier waren oder noch auf dem Weg. Allem Anschein nach waren die drei vor meiner Ankunft wohl noch nicht lange dort. Ich hielt nach Vinzenz Ausschau und tat mich schwer, ihn in seinem Versteck hinter ein paar Felsen zu erblicken. Dieser hatte offensichtlich schon länger auf sie gewartet.
Mein Plan war es, zu ihm zu schleichen, wobei er mich jedoch nicht bemerken würde, da er sich mit dem Rücken zu mir befand. Ich müsste ihm also den Mund zu halten, damit er seinen Schrecken nicht Kund tun könnte. Anschließend würde ich ihn von hier weg bringen und hoffen, dass die Assassinen nie herausbekämen, dass jemand hier war.
Ich wollte gerade mit dem Plan beginnen, da hatte Vinzenz plötzlich vor, sich näher an die Assassinen zu schleichen und kam dabei versehentlich mit seinem Fuß an ein Steinchen, das über den Boden hüpfte! Dieses Geräusch war in der Stille der Nacht kaum zu überhören und ich wagte nicht, mich in meinem Versteck zu bewegen, um nicht auch noch entdeckt zu werden. Ich hatte mich sogar dabei erwischt, wie ich die Luft angehalten habe, da mir vor Angst um meinen ersten Schüler mein Herzschlag so laut vorkam wie ein Hammer, der auf einen Amboss schlägt. Und ich erkannte in diesem Moment mehr denn je, dass ich Beschützergefühle für den Jungen entwickelt hatte. Ich wollte ihn doch um jeden Preis retten!
Unauffällig näherten sich zwei der Assassinen dem jungen Dieb. Dieser glaubte wohl, noch nicht gesehen worden zu sein, doch ich war mir sicher, dass dem nicht so war. Der Gevatter Tod tippte Vinzenz sozusagen schon auf die Schulter, ohne dass dieser etwas von seiner aussichtslosen Lage ahnte! Dafür spürte ich den kalten Hauch des Todes an seiner Stelle umso mehr… Doch was sollte ich machen? – Da hatten sie ihn auch schon ergriffen! Vinzenz schrie und wehrte sich vergebens, während sie ihn ihrem Anführer sozusagen zum Fraß vorwarfen.
Nun musste ich blitzschnell und gezielt handeln, um ihn noch retten zu können! Viel Zeit zum Nachdenken blieb leider nicht, doch es gelang mir, einen kühlen Kopf zu bewahren. Bei diesem Lärm, den Vinzenz in seiner Angst veranstaltete, ergab sich die beste Gelegenheit, die Armbrust zu spannen und schussbereit zu machen. Außerdem legte ich mir die Wurfmesser zurecht.
„Na, was haben wir denn da? Eine halbe Portion… Und du dachtest wohl, es wäre schlau, uns zu beobachten… Ich glaube wohl kaum, dass du es warst, der uns hierher bestellt hat…?“, meinte der Anführer, dessen Überheblichkeit gegenüber dem Jungen man schon an seiner Stimmlage heraushören konnte, noch während seine Männer diesen anschleppten.
Doch Vinzenz schien vor lauter Panik gar nicht zugehört zu haben und schrie nach wie vor immer wieder derartige Sätze: „Lasst mich los! Lasst mich los! Bitte! Ich habe doch gar nichts getan! Ich bin doch noch ein Kind! Bitte lasst mich frei! Ich werde auch keinem von euch erzählen! Ich weiß doch noch nicht mal, warum ihr hier seid! – Ich weiß doch von gar nichts! Bitte… bitte tut mir nichts!“
„Ach, wenn du nichts zu verbergen hast, warum versteckst du dann dein Gesicht unter einem Schal?“, wollte der Assassinen-Anführer wissen.
„Es ist nachts kalt und ich bin krank!“, argumentierte Vinzenz, so wie ich es meinen Schülern für Notsituationen beigebracht hatte.
„Na, dann wollen wir deinem Leiden mal ein schnelles Ende setzen, kleiner Lügner…“
„Nein, bitte! Tut mir nicht weh! Ich habe nichts getan!“, jammerte Vinzenz.
„Ach keine Sorge, es wird nicht weh tun. Du wirst gar nichts spüren und dein Gesicht kann ich mir immer noch ansehen, wenn ich deinen Kopf in den Händen halte!“ Mit diesen Worten zog der Anführer sein Schwert und überreichte es einem Kollegen. „Erledigt ihn“, erklärte er unbarmherzig, woraufhin sie Vinzenz mit Gewalt dazu brachten, vor einem großen Steinbrocken niederzuknien, auf dem er seinen Kopf legen musste, während der Anführer dabei zusah. Dieser stand mit dem Rücken zu mir, gar nicht so weit entfernt von meinem Versteck.
Ich zielte präzise mit der Armbrust und wartete auf den richtigen Moment. Der mit dem Schwert holte aus und erstreckte es dabei hoch in die Luft. – Das war er! Mein Pfeil bohrte sich durch den Oberarm des Hinrichters. Dieser schrie vor Schmerzen auf und ließ das Schwert fallen. Noch bevor die anderen in der Dunkelheit richtig erkennen konnten, was geschehen war, sprang ich aus meinem Versteck hervor und überwältige den Anführer von hinten mit einem Schlag auf den Kopf.
Ein Wurfmesserregen meinerseits auf die Assassinen folgte, worauf der Hinrichter die Flucht ergriff. Dem anderen musste ich nur die Armbrust unter die Nase halten und „Lauf“ flüstern, damit der es seinem Kollegen gleich tat. Vinzenz war inzwischen längst geduckt und auf allen vieren zurückgewichen und in Richtung bewusstlosen Anführer gekrochen.
Sofort nachdem die Assassinen in die Flucht geschlagen waren, packte ich meinen Schüler fest am Arm, zog ihn vom Boden hoch, und stellte ihn somit wieder auf die Beine. „Wir gehen!“
Ich führte ihn schnellen Schrittes zum Pferd, mit dem wir uns so rasch wie möglich aus dem Staub machten. Dieses lieferte ich danach ausnahmsweise mal, im Gegensatz zu dem, was ich sonst so stahl, wieder vor seinem Stall ab. Was sollte ich auch mit einem gestohlenen, wenn auch zuverlässigen und braven Pferd? Ich müsste es versorgen und der Besitzer wohnt in derselben Stadt und würde es wiedererkennen.
„Danke, Mädchen. Wenn ich mir mal wieder ein Pferd leihen muss, werde ich auf dich zurückkommen“, flüsterte ich der Stute ins Ohr, bevor ich zusammen mit Vinzenz heimwärts ging.
Dieser war den ganzen Heimritt lang stumm geblieben. Wahrscheinlich musste er erst einmal den Schock von eben verarbeiten. Immerhin hätte ihn sich fast der Sensenmann geschnappt. Dann plötzlich brach er die Stille, als wir im Lagerhaus angekommen waren. „I-ich muss mich noch bei Euch bedanken…, dafür, dass Ihr mir das Leben gerettet habt! Ich schulde Euch was.“
Als meine Ohren den letzten Satz vernahmen, fiel mir prompt wieder ein, wie Vinzenz mir vor einiger Zeit erklärt hatte, dass er für die Gilde sein Leben lassen würde. Und nur weil ich den Jungen gern hatte, machte mich das noch wütender. „Du schuldest mir was?! Hör mal, wenn du mir was schuldest, dann einzig und allein, dass du nie wieder so dumm bist und dich derart in Gefahr bringst!“, schimpfte ich ungewöhnlich laut. „Weißt du eigentlich, wie knapp du dem Tod entkommen bist?! Und auch wenn ich nur hoffen kann, dass dir dieser Vorfall Lektion genug war, so werde ich es bei nur dieser Belehrung nicht belassen können. Dafür steht noch eine ordentliche Strafe an!“
Inzwischen waren wir im Konferenzsaal angekommen. Alle waren bereits schlafen gegangen, nur eine einzige Fackel brannte noch in ihrer Halterung und bei genauerem Hinsehen erblickte ich Neil in ihrer Nähe. „…I-ich konnte nicht schlafen“, stammelte dieser, um sein Hiersein zu erklären, „weil ich mir Sorgen gemacht habe. Aber wie ich sehe, waren diese unbegründet. Ihr habt Vinzenz wohlbehalten zurückgebracht.“
„Warte, Neil!“, rief plötzlich Vinzenz, da sein Kamerad offensichtlich zu Bett gehen wollte. „Ich möchte, dass du das hier noch mitbekommst: Ihr sollt nicht glauben, dass dieses Abenteuer umsonst gewesen wäre!“
„Ich doch auch nicht! Du sollst wenigstens aus deiner Dummheit gelernt haben, dass man sich, wie gesagt, nicht mit Assassinen anlegt! Du bist nur haarscharf mit dem Leben davongekommen!“, kam es daraufhin von mir, doch Vinzenz ging gar nicht weiter darauf ein und holte stattdessen etwas aus seiner Hosentasche.
Nicht zu fassen! Das war doch tatsächlich das vom Kunden verlangte Bronzeamulett des Anführers! Ich war außer mir vor Wut, dass der Junge uns anscheinend noch mehr Schwierigkeiten mit den Assassinen eingebrockt hatte und konnte mich in diesem Moment einfach nicht mehr Beherrschen! Dass Vinzenz es gewagt hatte, machte mich regelrecht rasend, was ich ihn mit einer Ohrfeige und den lauten, herrschenden Worten: „In den Schlafsaal mit dir! Sofort!“, spüren ließ. – Und noch bevor ich über meine Reaktion nachdenken konnte, war es auch schon geschehen.
Ich nahm Neils schockierten Blick im Hintergrund wahr. Vinzenz war nicht weniger erschrocken und rieb sich mit der Hand die gerötete Wange, während sich Tränen der Enttäuschung in seinen Augen sammelten. Wortlos, aber mit deutlich großer Empörung schmiss er das Amulett kraftvoll zu Boden und stürmte an Neil vorbei in den Flur.